IM FOKUS Machtmissbrauch in der Wissenschaft Schweigen als Legitimation struktureller Gewaltausübung Die Vorfälle, die in dem eingangs erwähn- ten ZEIT-Artikel so eindrücklich beschrie- ben werden, wurden durch organisationale Strukturen begünstigt, die an nahezu allen Hochschulen zu finden sind – auch an wis- senschaftlichen Institutionen in Bonn, wie der Universität oder des Universitätsklini- kums. Obgleich in den letzten Jahrzehnten ein recht deutlicher Strukturwandel an den Hochschulen vollzogen wurde, insbe- sondere im Bereich der Steuerung und des Managements, sind die tief verwurzelten Macht- und Abhängigkeitsstrukturen in so manchen Bereichen hartnäckig konser- viert worden. Bei der Thematisierung von sexualisierter Diskriminierung und Gewalt geht es demnach nicht nur um Machtmiss- brauch, der von einzelnen Personen aus- geht, sondern auch um die Ausübung von struktureller Gewalt und Unterdrückung. Ein deutliches Merkmal für das Wirken die- ser strukturellen Gewalt ist das Schweigen, wenn es um konkrete Vorfälle geht. Die Be- troffenen trauen sich nicht über das Gesche- hene zu sprechen, aus Angst vor negativen Konsequenzen. Schlimmer ist jedoch, dass auch das Umfeld schweigt. Es existieren unzählige Fälle von Machtmissbrauch, Über- griffen und Gewalt an Hochschulen, die ‚in- offiziell‘ bekannt sind, aber nicht ‚offiziell‘ bearbeitet werden. Eine Folge dieses Schwei- gens ist die immerwährende Wiederholung der Übergriffe, so dass die Vorfälle zu einer gewissen Normalität gehören – durch das Schweigen werden sie zudem grundsätzlich legitimiert. Zivilcourage als Motor für strukturellen Wandel Der Duden definiert Zivilcourage als „Mut, den jemand beweist, indem er humane und demokratische Werte (z.B. Menschenwürde, Gerechtigkeit) ohne Rücksicht auf eventu- elle Folgen in der Öffentlichkeit, gegenüber Obrigkeiten, Vorgesetzten u.a. vertritt.“ Die- se Art von Mut wird an den Hochschulen notwendig sein, um die Strukturen, welche den Machtmissbrauch und das Ausnutzen von Abhängigkeitsverhältnissen begünsti- gen, essentiell und nachhaltig zu verändern. Oftmals dauert es eine längere Zeit, manch- mal Jahre, bis sich Opfer von sexualisierter Diskriminierung und Gewalt melden, da sie in der Regel versuchen, die zunächst als Ausnahme erscheinenden Vorfälle zu ver- drängen und auszuhalten. Zudem gehen die meisten Opfer davon aus, dass ihnen an den Hochschulen entweder nicht geglaubt wird oder ihnen niemand helfen kann. Diese Annahmen werden oft durch die Vorgesetz- ten bzw. Betreuungspersonen verstärkt, da gedroht wird, dass die Zusammenarbeit und die wissenschaftliche Karriere beendet sei, wenn über die Vorfälle gesprochen wird. Der Aufbau von verlässlichen und transpa- renten Wegen zur Aufarbeitung der Vorfälle und der Aufbau von grundsätzlichem Ver- trauen in die bereits bestehenden Hilfsan- gebote der Hochschulen sowie die Stärkung der Zivilcourage aller an den Hochschulen Beschäftigten und Studierenden, um Betrof- fenen zu helfen und diese zu unterstützen, werden zentrale Aufgaben der kommenden Jahre sein, um die Hochschulen zu durch- gängig sicheren Studien- und Arbeitsorten weiterzuentwickeln. Quellen: Deutsche Forschungsgemeinschaft (2022): Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis – Kodex. https://www.dfg.de/download/pdf/foerderung/ rechtliche_rahmenbedingungen/gute_wissenschaftliche_praxis/kodex_gwp.pdf, Zugriff am 26.07.2022, S. 11. Diehl, Charlotte/Rees, Jonas/Bohner, Gerd (2013): Zur „Sexismus-Debatte“: Ein Kommentar aus wissenschaftlicher Sicht. https://bukof.de/wp-content/uploads/ Diehl_Rees_Bohner_Kommentar-zur-Sexismus-Debatte_lang_2013-02-07.pd_.pdf, Zugriff am 26.07.2022, S. 4. Hanson, Rebecca/Richards, Patricia (2019): Harassed: Gender, bodies, and ethnographic research. University of California Press. Hildebrandt, Paul J. (2022): Auf seinem Tisch lag ein Stock. In Göttingen soll ein Forstwissenschaftler Doktorandinnen jahrelang geschlagen haben, in: DIE ZEIT, Nr. 26, S. 42 ff. Hodgetts, Lisa/Supernant, Kisha/Lyons, Natasha/Welch, John R. (2020): Broadening #MeToo: Tracking dynamics in Canadian archaeology through a survey within the discipline. Canadian Journal of Archaeology, 44(1), 20–47. 6